Berauscht der Sinne beraubt. Eine Geschichte der Ekstase
Racha Kirakosian, 1986 in Syrien geboren, in Bebra/Deutschland aufgewachsen, studierte Geschichte, Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Göttingen, Paris und Oxford. Sie war als Assistenzprofessorin an der Harvard University tätig. Seit 2020 ist sie Ordinaria in Freiburg i. Br./Deutschland. Foto: Maurice Weiss I Ostkreuz
Vehikel der Ekstase
Racha Kirakosians Panorama der Historie von Ekstase und Berauschung: von Visionen, Massenhypnose, Drogenkonsum, Fußballstadien und Raves, Sufis und Nonnen
Ekstase und Rausch sind vielfältiger und vielschichtiger als landläufig angenommen. Racha Kirakosian, Professorin für die Kultur des Mittelalters an der Universität Freiburg im Breisgau/Deutschland, zeichnet diesen Zustand zwischen Kontroll- und Ich-Verlust, zwischen Glücksgefühl, Entgrenzung und Aufgehen in Masse oder Pein und Transzendenzerfahrung nach. Ist der Zustand höchster Verzückung etwas Irrationales oder gar Pathologisches, wie es das westliche Denken seit der Aufklärung gern behauptet? Fehlte es den visionären Nonnen des Mittelalters oder den Hysterikerinnen des Fin de Siècle lediglich, wie ein misogyner Einwand lautet, an sexuellem Kontakt mit Männern? Welche Rolle in der Geschichte dieses Phänomens spielen in diesem Kontext Schmerzen oder Rauschdrogen? Die schmerzhaften Praktiken, mit denen christliche Mystikerinnen einst in ihren Klosterzellen ihre Körper malträtierten, um Gottes Botschaften zu empfangen: Was verbindet ihr in Handschriften ausführlich dokumentierter Lustschmerz mit dem Teilnehmer an BDSM-Spielen des Jahres 2025? Und die sich zur Ekstase tanzenden Sufi-Derwische im Islam, gibt es hier vielleicht Parallelen zum kollektiven Rausch auf Techno-Partys der Gegenwart? Inwiefern kann Tanz zu Musik als Vehikel zur Ekstase in diesem Kulturphänomen eingestuft werden?
Karakosians Promenade führt in fünf Kapiteln, die nicht chronologisch geordnet sind, vielmehr Querschnitte durch Historie und die Sichten auf Rausch, Berauschung und Ekstase bieten, und daher auf Grund eines interdisziplinären und multiperspektivischen Ansatzes überaus anregend sind, durch Jahrhunderte und auf fast jeden Kontinent. Rausch als Flucht aus Tristesse und Alltag, als gemeinschaftsstiftendes Erlebnis, auch als – man denke an Opium – ökonomisches Treibmittel des britischen Kolonialismus und Imperialismus. Neurobiologische oder gar pathologisierende Erklärungen für Menschen in Verzücktheitszuständen sind, so Karakosian, nur ein weiteres Narrativ und können, besonders wenn sie historische Kontexte ausblenden, nicht »die« Wahrheit über Ekstase erfassen.
Kirakosian, Racha
Propyläen