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Ökonomie der Angst. Die Rückkehr des nervösen Zeitalters
Author photo:  Rathkolb, Oliver

Der 1955 in Wien geborene Historiker Oliver Rathkolb, von 1985 bis 2003 wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv, war ab 1994 Ko-Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, ab 2008 Universitätsprofessor in Wien und ist seit 2015 Vorsitzender des internationalen wissenschaftlichen Beirats für das Haus der Geschichte Österreich. Foto: Harald Eisenberger

Nervosität gestern, Nervosität heute

Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb legt eine vergleichende Studie der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und der Gegenwart vor: Beschleunigung, Hektik, Atomisierung und Globalisierung einst und heute

»Nervosität« hat sich in der moderneren Geschichtsschreibung etabliert als bedeutsames Phänomen, das das seelenpolitische Getriebe der Zeit zwischen 1890 und 1914 prägnant fasst. Dieser Begriff fungiert als »Scharnier« zwischen individueller Erfahrung und der Wahrnehmung der Zeitsituation, der deren Widersprüche und Paradoxien durchdringend und maßgeblich prägte. Es gab quer durch europäische Vorkriegsgesellschaften etwas Verbindendes. Freud entwickelte damals in der Wiener Berggasse die Grundlagen der Psychoanalyse. Zeitgleich schossen im wilhelminischen Deutschland Nervenheilstätten aus dem Boden. Das Tempo nahm massiv zu, durch Automobil, Telefon, Boulevardpresse und die Globalisierung des Warenverkehrs. »Nervosität« und deren Überwindung rückten in die Mitte des öffentlichen Diskurses. Der Wiener Historiker Oliver Rathkolb, Autor zahlreicher, weithin wahrgenommener Bücher und Veröffentlichungen zur österreichischen und internationalen Zeit- und Kulturgeschichte sowie Herausgeber der Zeitschrift ZEITGESCHICHTE, analysiert nun die Rückkehr des nervösen Zeitalters. Er macht die Ursache an der »ersten und zweiten Turboglobalisierung« fest. Politische Umwälzungen, ökonomische Krisen nahezu im Dauermodus und technologische Innovationen überforderten im Vorfeld des Ersten Weltkriegs diverse Staaten und deren politische Eliten, wie das, so Rathkolb in seiner profunden, erhellenden, partiell auch verblüffend erschreckenden Zeitvergleichsstudie, auch heute der Fall ist – und riefen und rufen Glücksritter und Scharlatane in Wirtschaft und in der öffentlichen Entscheider-Arena auf den Plan. Irrationale Fehlentscheidungen der Politik, eine wachsende Polarisierung der Bevölkerung, dazu das immer stärker empfundene Gefühl der Marginalisierung, des Abgehängt-Seins des Einzelnen wecken alt-neue Sehnsüchte nach dem Modell des »starken Mannes« wie nach simplistischen, disruptiven, nicht selten mit Abbau der Demokratie, Willkür, Repression und Gewalt einhergehenden Lösungen für anspruchsvolle, komplizierte Problemlagen.
Rathkolb, Oliver
Molden
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