Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Jens Wietschorke studierte Volkskunde/Europäische Ethnologie in Tübingen, wurde in Berlin promoviert, war von 2009 bis 2015 stellvertretender Institutsvorstand am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, seither Akademischer Rat am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität München. (Foto: Prudlo-Wien)

Eine Geschichte zweier Städte

Der empirische Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke analysiert die Klischeevorstellungen über die Antipoden-Metropolen Wien und Berlin und enthüllt per »vergleichendem Blick« gängige, überholte Stereotypen.

Hier: Tempo, Tempo! Dort: Gemüt und Gemütlichkeit. Hier Berlin, dort Wien. Wien und Berlin waren zu Zeiten der klassischen Moderne, in den Jahren 1870 bis 1930, wie das Jens Wietschorke gleich zu Beginn treffend nennt, »Magnete«. Sie zogen sich an. Sie stießen sich ab. Solche reaktiven Magnet- und Kraftfelder gibt es auch in der Kultur, bei sozialen Milieus und intellektuellen Phänomenen. Wien und Berlin, die zwei Metropolen, sind hierfür zwei exzeptionelle Beispiele, da sie in den sechzig Jahren, die der Ethnologe und Kulturwissenschaftler in den Fokus nimmt, rivalisierende Zentren waren: politisch, kulturell, geistesgeschichtlich. Schon früh, kurz nach der Jahrhundertwende, galt dies als Duell zweier sehr unterschiedlich eingestufter Antipoden. Berlin: Stadt des Tempos, der Industrialisierung, der Elektrifizierung, hektischer, immer rasanter werdender Modetänze, Wien: Ort katholischer Saturiertheit und müßiger Kaffeehausbesucher. Jens Wietschorke nimmt dieses Wechsel- und Abgrenzungsverhältnis inklusive Wissens- und Kulturtransfer – die Übersiedlung vieler Journalisten nach Berlin, den »Export« der Psychologie nach Deutschland, ebenso die avancierte Kunst Klimts, Schieles, Kokoschkas – in seinem überaus lesbaren, ja eleganten und argumentativ klugen Buch in den Blick. Es ist eine überaus erhellende Untersuchung über Klischees, Wien, das Herz, Berlin, der Kopf, und gängige, träge wie stereotyp tradierte Vorstellungen über Kunstformen und Lebensweisen. Es geht ihm auch um Wandlungen, Transformationen innerer wie äußerer Art. Er zieht zwar viele Stadtbeschreibungen heran - was ihn jedoch interessiert, ist dabei der »vergleichende Blick« und dessen Analyse, der »Zirkulationsprozess zwischen Klischee und Wirklichkeit«. Eine Vielzahl mittelbekannter wie großer Namen zieht vorbei, von Max Reinhardt bis Vicki Baum, von Schönberg bis Musil. Wietschorke führt ein funkelndes Kaleidoskop der Berliner und der Wiener Moderne vor, das vieles neu, in aufregend neuer Ausleuchtung erhellt und zur selben Zeit darüber aufzuklären vermag, warum der heutigen Leserschaft so vieles so bekannt vorkommt. So legt er kurrente gängige Klischeevorstellungen über Berlin und Wien auf die Couch. (Abbildung Berlin Oranienplatz: Wikicommons)

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

LAUDATIO Die Großstädte Berlin und Wien wetteiferten oft miteinander und wurden dementsprechend häufig verglichen. Jens Wietschorke hat die Beziehungsgeschichte der beiden Metropolen noch genauer unter die Lupe genommen: Wien und Berlin waren nämlich insbesondere während der klassischen Moderne, also in den Jahren 1870 bis 1930, wie es Wietschorke gleich zu Beginn seiner umfassenden wie unterhaltsamen Studie treffend nennt, »Magnete«. Beide Städte zogen sich an und stießen sich ab – in der Kultur, bei sozialen Milieus und intellektuellen Phänomenen. Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler nimmt diese rivalisierenden Zentren in den Fokus – politisch, kulturell, geistesgeschichtlich – und beschreibt elegant und klug argumentierend dieses Wechsel- und Abgrenzungsverhältnis inklusive seiner Wissens- und Kulturtransfers. Was den Autor jedoch vor allem interessiert, ist ein vergleichender analytischer Blick eines »Zirkulationsprozess zwischen Klischee und Wirklichkeit«. So entsteht ein Kaleidoskop der deutschsprachigen Moderne, das vieles neu beleuchtet und in beiden Städten bis heute wohl gehütete Ressentiments dekonstruiert. Eine überaus erhellende Untersuchung von Klischees und stereotyp tradierten Vorstellungen!
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Wietschorke, Jens
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